Scheinwerfer, Digitalmikroskop, Messfühler: Fachleute unterschiedlicher Disziplinen nehmen die einzigartigen, mehr als 1100 Jahre alten Wandmalereifragmente im karolingischen Westwerk der UNESCO-Welterbestätte Corvey akribisch unter die Lupe. Was zu tun ist, um sie zu sichern und zu erhalten, wollen sie ganzheitlich und nachhaltig ausloten.
Bei den Messungen und Analysen durch externe Forschungspartner richtet sich der Blick schwerpunktmäßig auf das Raum- und Nahfeldklima. Denn Luftfeuchtigkeit und Temperaturschwankungen können einer historischen Bausubstanz in bestandsgefährdender Tragweite zusetzen. So auch im Innern des Westwerks. Dort sind in der Erdgeschosshalle und auch im Johanneschor Luftentfeuchter im Einsatz. Denn zu den jahreszeitlich bedingten Schwankungen kommt die anhaltende regnerische Witterung der zurückliegenden Monate erschwerend hinzu.
Ob die Geräte für eine präventive Klimasteuerung ausreichen oder ob zusätzlich noch temperiert werden muss, wird sich zeigen: Unter der Regie der LWL-Denkmalpflege, Lanschafts- und Baukultur in Westfalen, dem in Münster ansässigen Denkmalpflegefachamt, finden über das fortlaufende Monitoring hinaus umfassende Messungen, Analysen und erweiterte restauratorische Untersuchungen statt. Sie sollen Aufschluss geben.
„Wir untersuchen die Zusammenhänge zwischen dem Klima und den bestehenden Schadensbildern an den Wandmalereifragmenten“, erläutert die das Forschungsprojekt betreuende Restauratorin Franziska Tretow des LWL. Natürlich umfasst die Analyse auch Erkenntnisgewinne darüber, was restauratorisch zur Sicherung der sensiblen Substanz unternommen werden kann. Denn das ist es, was die Projektbeteiligten letztlich erreichen wollen: die einzigartigen Wandmalereien erhalten. Das Forschungsprojekt wird durch Finanzmittel des NRW-Bauministeriums umfangreich gefördert. Das Erzbistum Paderborn fördert die Restaurierungs- und Konservierungsmaßnahmen.
Vor Ort stehen der Standortleiterin des karolingischen Weltwerks und der ehemaligen Abteikirche, Annika Pröbe, und dem Architekten der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus Corvey, Albert Henne, bewährte Kooperationspartner zur Seite: Die restauratorische Fachbauleitung Karen Keller aus Köln und der Klimagutachter Dr. Horst Schuh aus München bringen ihren Sachverstand in die groß angelegten Untersuchungen ein.
Warum Handlungsbedarf besteht, erläuterten die Beteiligten kürzlich bei einem Ortstermin: Die kostbaren Kulturzeugnisse werden mit detaillierten Nahfeld-Klimaerfassungen und auch in einem engmaschigen restauratorischen Monitoring laufend überwacht. „Dabei haben sich jetzt in kurzen Abständen Veränderungen ergeben“, sagt Annika Pröbe. Gemeint sind Salze, die sich auf und in der Wand einlagern. „Wir brauchen Erkenntnisgewinne, wo genau welche Salze stecken, ob vor allem auf der Oberfläche oder auch tiefer im Putz“, berichten Franziska Tretow und Karen Keller. Klimaexperte Dr. Schuh hält es für angezeigt, die Salze zu untersuchen – auch unter dem Blickwinkel, ob auf den Oberflächen andere Salze liegen als tiefer im Putz. Dazu sind Millimeter-Bohrungen nötig.
Erschwerend hinzu kommt für das Expertenteam ein ganz anderes Problem: Nachdem die Wandmalereifragmente im Westwerk in den 1960-er Jahren freigelegt worden waren, brachten Fachleute - nach bestem Wissen und Gewissen - auf Teile der Oberflächen im Südseitenschiff der Erdgeschosshalle und in den Emporenbereichen des Johanneschors ein silikatisches Putzfestigungsmittel auf. Dieser Flüssigglas-Überzug kann nicht entfernt werden. Das ist auch deshalb fatal, weil er inzwischen Risse aufweist. Diese lassen die Fläche darunter wie gesprungenes Glas erscheinen. Und setzen der Malerei natürlich empfindlich zu.
Die feinen Risse, vergleichbar mit einer zersprungenen Autoscheibe, sieht man nur mit dem Mikroskop. Das bloße Auge erkennt jedoch, wie stark der Schmutz und der Überzug die ohnehin schon blassen Farben noch weiter eintrüben. Die Fachleute untersuchen nun, wo die Salze sich im Gefüge befinden und wie sich diese klimaabhängig verhalten: Drücken sich die Salze durch die feinen Risse der Silikat-Schicht an die Oberfläche, könnten sie dabei die Oberfläche mit den Farbpigmenten nach vorne drücken und schädigen.
Die schädliche Silikatschicht hat die berühmte Corvey-Forscherin Hilde Clausen (1919-2009) in den 1990-er Jahren entdeckt. Sie erschrak. Das können die Restauratoren heute nachvollziehen. Befunduntersuchungen aus der Zeit um 2020 geben Aufschluss darüber, dass 26 der insgesamt 45 kartierten Bildpläne betroffen sind. Die berühmte Odysseus-Szene ist nicht darunter – „zum Glück“.
Im Südseitenschiff im Erdgeschoss hat Karen Keller jetzt einen kleinen Teil der 26 Flächen probehalber oberflächlich gereinigt. Das Ergebnis stimmt sie hoffnungsvoll. Die Farben sind wieder kräftiger. „Mit einer Putzsicherung und Reinigung gewinnen wir auch optisch viel“, betont Franziska Tretow.
Die Beteiligten hoffen nun, dass sie im nächsten Jahr aufgrund ihrer Analysen mit der Restaurierung der Wandmalereien anfangen können – damit diese hochbedeutenden Zeitzeugnisse den Menschen auch weiterhin so eindrucksvoll vermitteln, wie die Benediktinermönche vor mehr als 1200 Jahren ihren Auftrag, die Verkündigung des Evangeliums, wirkmächtig umgesetzt haben.